Mythbusters – Augmented Reality, digitale Werkerführer und inklusive Produktionsarbeit

Die digitale Transformation bietet nicht nur Effizienzgewinne, sondern kann auch gesellschaftliche Teilhabe fördern – besonders für Menschen mit Beeinträchtigungen. Doch wie lässt sich Technologie so gestalten, dass sie tatsächlich inklusiv wirkt und nicht nur als „Kompensationswerkzeug“ verstanden wird? Diese Frage stand im Mittelpunkt des Forschungsprojekts „Assist to Include“, das David Kostolani von der TU Wien über zweieinhalb Jahre leitete. Im Rahmen einer Veranstaltung der Plattform Industrie 4.0 Österreich präsentierte er die zentralen Erkenntnisse – und räumte mit einigen Mythen über digitale Werkeführung auf.

 

Die Ausgangslage: Barrieren auf dem Arbeitsmarkt

Die Zahlen sind ernüchternd: Menschen mit Beeinträchtigungen sind überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen – besonders junge Berufseinsteiger:innen unter 25 Jahren, von denen jede vierte Person ohne Job ist. Gleichzeitig verdienen sie im Schnitt weniger als Kollegen ohne Beeinträchtigungen, selbst bei gleicher Tätigkeit. Paradoxerweise herrscht in vielen Branchen Arbeitskräftemangel – doch die Komplexität moderner Produktionsprozesse stellt für Menschen mit kognitiven, sensorischen oder motorischen Einschränkungen oft eine Hürde dar.

Hier setzt das Projekt an, da Arbeit gerade für Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur Einkommen, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe bedeutet. Die Frage war daher: Wie kann digitale Werkerführung diese Teilhabe ermöglichen – ohne die Menschen auf die Rolle von „Ausführenden“ zu reduzieren?

 

Spatial Augmented Reality: Eine Alternative zu Datenbrillen

Ein zentrales Ergebnis des Projekts ist die Eignung von Spatial Augmented Reality (SAR) für inklusive Arbeitsumgebungen. Anders als Datenbrillen, die oft schwer, unhandlich und akkubetrieben sind, projiziert SAR Informationen direkt in das Sichtfeld der Arbeitskraft – ohne zusätzliche Hardware. Dabei bietet Spatial Augmented Reality gegenüber Datenbrillen einige Vorteile. Dazu zählt, dass keine physische Belastung vorliegt, weil man keine schweren Brillen tragen muss, es gibt keine Akkuprobleme, man kann die Brillen also den ganzen Tag tragen, es gibt die Möglichkeit größerer Projektionsflächen bis hin zu mehreren Quadratmetern und sie ermöglichen auch eine flexiblere Informationsdarstellung, etwa in Form von Texten, Videos, Animationen oder Farbcodierungen.

Doch wie wirksam ist diese Technologie tatsächlich in der Praxis – besonders bei komplexen Aufgaben?

 

Von Lego-Tasks zu realen Produktionsprozessen: Was wirklich funktioniert

Bisherige Studien zu digitaler Werkeführung konzentrierten sich meist auf einfache Montageaufgaben (z. B. Lego-Bauanleitungen). Das entspricht jedoch keinen Produktionsrealitäten. Einfache visuelle Hinweise reichen bei der Bedienung von Maschinen, dem Schreiben von Programmen oder bei Qualitätsentscheidungen oft nicht aus.

Im Projekt wurden daher vier Use Cases entwickelt – darunter die Programmierung eines Roboters und die Bedienung einer Kreissäge. Die überraschende Erkenntnis:

  • Zu einfache Anleitungen funktionieren nicht: In den ersten Tests klickten Teilnehmer:innen mit Beeinträchtigungen oft einfach durch die Anleitung, ohne sie zu verstehen.
  • Komplexität ist notwendig: Erst als die Anleitungen mehr Text und interaktive Elemente enthielten, konnten die Nutzer:innen die Aufgaben tatsächlich lernen – nicht nur nachahmen.
  • Videos allein reichen nicht: Sie fördern zwar das direkte Nachmachen, aber kein tieferes Verständnis.

Kern-Learning: Sinnvolle Assistenzsysteme triggern Lernprozesse – sie ersetzen sie nicht.

 

Drei Prinzipien – und warum sie in der Praxis anders wirken

Die Forschung zu digitaler Werkeführung basiert bisher auf drei zentralen Prinzipien, die kognitive Belastung reduzieren sollen. Das erste Prinzip ist die Verringerung textlastiger Anweisungen durch visuelle Hinweise, das zweite Prinzip ist die Fokussierung der Aufmerksamkeit durch räumliche Projektionen und das dritte Prinzip ist die Nutzung digitaler Medien z. B. Videos statt Text.

Doch die Praxis zeigte, dass diese Prinzipien nicht immer zu den besten Ergebnissen führten. Bei komplexen Aufgaben (z. B. Maschinenbedienung) brauchen Nutzer:innen mehr Kontext – also Text und Erklärungen. Bewegte Projektionen (z. B. Animationen) können die Aufmerksamkeit überfordern, wenn die Aufgabe anspruchsvoll ist. Videos führen zu „shallow processing“: Nutzer:innen machen zwar nach, verstehen aber nicht, warum sie etwas tun.

Werkerführung gehört daher neu gedacht. Statt Mikroanleitungen sollten Systeme entwickelt werden, die Kompetenzen aufbauen – z. B. durch interaktive Elemente, Quizze oder Gamification.

 

Inklusion ohne Klischees: Warum „Kompensation“ der falsche Ansatz ist

Ein zentrales Vorurteil in der Forschung und Industrie ist die Annahme, dass Menschen mit Beeinträchtigungen automatisch weniger produktiv seien und daher besonders einfache Anleitungen bräuchten. Kostolani erkennt darin einen Bias, da viele Menschen mit Beeinträchtigungen in der Praxis genauso produktiv arbeiten, wie andere. Sie würden also keine Sonderlösungen brauchen. Gleichzeitig gibt es Menschen, die mehr Unterstützung brauchen – aber auch das gilt für alle Menschen, unabhängig davon, ob sie eine Beeinträchtigung haben oder nicht. Der Schlüssel liegt daher nicht in „Vereinfachung“ für bestimmte Nutzergruppen, sondern in guter Didaktik. Das Ziel müsse die Entwicklung von Technologien sein, die allen nützen – sei es durch besseres Lernen, mehr Motivation oder höhere Sicherheit.

 

Fazit: Weg von der „Checkbox-Inklusion“ – hin zu menschenzentrierter Technologie

Kostolanis Appell an Forschung und Industrie ist daher, Beeinträchtigungen nicht mehr als Defizit zu betrachten. Inklusion bedeute nicht Schwächen auszugleichen, sondern Barrieren abzubauen – und zwar für alle Mitarbeiter:innen gleichzeitig. Weiters sollte auf die langfristige Kompetenzentwicklung fokussiert werden. Einfache Anleitungen würden zwar eine kurzfristige Produktivität bringen, langfristig führt es aber nicht zu Verständnis und damit zu keiner Weiterentwicklung. Schließlich meint der Forscher, dass Technologie genutzt werden sollte, um Arbeit menschlicher zu machen. Augmented Reality etwa kann mehr sein, als ein Werkzeug – es kann Lernprozesse fördern, Motivation steigern und Teamarbeit unterstützen.