Der Gedanke zur digitalen Repräsentanz eines realen Objekts existiert schon sehr lange. Erste Ideen zu Digitalen Zwillingen gab es bereits in den 1990er Jahren, in den 2000er Jahren hielt das Konzept Einzug in unterschiedliche Forschungsbereiche. Seit damals ist viel passiert und insbesondere im Umfeld von Industrie 4.0 ist das Konzept des Digitalen Zwillings mittlerweile angekommen. Die zunehmende Digitalisierung der Produktion und die fortschreitende Vernetzung von Maschinen und Anlagen haben die Entwicklungen in den letzten Jahren noch weiter beschleunigt.
Der Digitale Zwilling stand daher im Mai 2021 im Zentrum der 19. Sitzung der ExpertInnengruppe Forschung, Entwicklung und Innovation der Plattform Industrie 4.0. In der Sitzung wurden der aktuelle Stand der Wissenschaft beleuchtet und wichtige internationale Entwicklungen zum Thema vorgestellt. Außerdem waren Beispiele aus der industriellen Praxis Teil des Programmes.
Modelle, Schatten, Zwillinge
Wie definiert man einen Digitalen Zwilling und was ist der Kern des Konzepts? Diese Frage beschäftigt Prof. Manuel Wimmer vom Institut für Wirtschaftsinformatik – Software Engineering der JKU Linz.
Je nach Tiefe der Integration zwischen dem digitalen und dem tatsächlichen System kann man Modelle entsprechend einordnen: „Digitale Modelle“ beschreiben den Zustand des tatsächlichen Systems, müssen aber bei Veränderungen manuell bearbeitet werden. „Digitale Schatten“ sind wiederum Modelle, bei denen Daten aus dem tatsächlichen System automatisch in das digitale System einfließen und dieses verändern. Als „Digitaler Zwilling“ kann schließlich ein System bezeichnet werden, bei dem dieser Prozess vice versa möglich ist, das digitale System also das tatsächliche System ebenfalls beeinflusst.
Die Umsetzung Digitaler Zwillinge setzt sowohl Kompetenzen im Bereich der Softwareentwicklung als auch das nötige Domänenwissen voraus. Wichtig bei der Erstellung ist auch das adäquate Abstraktionsniveau: Modelle stiften dann den größten Mehrwert, wenn sie einfach genug aber nicht allzu vereinfacht sind.
Anschließend ging Prof. Wimmer auf die automatisierte Erstellung der Softwaresysteme für Digitale Zwillinge und auf deren Potenzial ein. Auch „Model-Driven Engineering“ und Plattformen für Digitale Zwillinge sowie deren Einsatz in Industrie, Bauwirtschaft oder Stadtplanung, sind Themen, die Prof. Wimmer am Christian Doppler Labor für modellintegrierte intelligente Produktion beschäftigen und über die er die Mitglieder der Plattform Industrie 4.0 informierte.
Viele Aktivitäten, viele Initiativen
Digitale Zwillinge sind ein wesentlicher Aspekt cyber-physischer Systeme und ein zentrales Element der digitalen Produktion. Dementsprechend viele Aktivitäten gibt es in direktem oder indirektem Zusammenhang zum Digitalen Zwilling – national wie international. Für Unternehmen und MitarbeiterInnen ist es nicht immer einfach, den Überblick zu behalten. Dieser ist aber notwendig, um zu entscheiden, welche Initiativen man unterstützen möchte bzw. bei welchen Gruppen man mit den eigenen Überlegungen andocken könnte.
Um hier zu helfen, wurde Nils Herzberg als Vortragender eingeladen. Neben seiner Tätigkeit bei SAP ist Hr. Herzberg Sprecher des Vorstands der Open Industry 4.0 Alliance und Mitinitiator des kürzlich lancierten Netzwerks Catena-X. Durch seine berufliche Tätigkeit kennt Hr. Herzberg viele aktuelle Initiativen im Detail. In seinem Input vermittelte er daher zuerst einen Überblick über die wichtigsten Initiativen sowie über die Firmen und Player, die sich in diesen engagieren.
Catena-X: Eine Umsetzungsallianz der Automobilindustrie
Anschließend stellte Hr. Herzberg Catena-X vor. Catena-X ist ein Netzwerk im Kontext der europäischen Dateninfrastruktur-Initiative GAIA-X. Ziel ist die Vernetzung der Automobil-Industrie und der Aufbau durchgängiger Datenketten unter Einbindung des (deutschen und europäischen) Mittelstandes.
Mit Hilfe der offenen GAIA-X-Technologie und unter Einbeziehung möglichst vieler Unternehmen des industriellen Ökosystems im Bereich Automotive sollen verschiedene Anwendungsfälle definiert werden. Der Digitale Zwilling spielt im Kontext von Catena-X eine wichtige Rolle. So sind „digitale Geburtsurkunden“ in einer möglichst standardisierten Form für die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen einer Wertschöpfungskette zunehmend relevant.
Entscheidend für den Erfolg der Initiative ist die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit. Das Commitment teilnehmender Unternehmen wird vorausgesetzt – das hat Catena-X auch mit den anderen vorgestellten Initiativen gemeinsam.
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Catena-X wird vorgestellt
IDTA: Einsatz für den international standardisierten Digitalen Zwilling
Ebenfalls von Hrn. Herzberg erwähnt wurde die IDTA, die International Digital Twin Association, die anschließend von deren Geschäftsführer, Christian Mosch, vorgestellt wurde.
Die IDTA wurde im März 2021 gelauncht und baut auf der Arbeit der deutschen Plattform Industrie 4.0 auf. Ziel der Organisation ist die internationale Weiterentwicklung des Digitalen Zwillings und der Aufbau sowie die Veranschaulichung konkreter Use Cases im Bereich der Industrie.
Zentral für die Arbeit der IDTA ist das Konzept der Verwaltungsschale (Asset Administration Shell, AAS), das im Bereich des Digitalen Zwillings die herstellerübergreifende Interoperabilität ermöglicht. Die AAS kann man dabei als Container verstehen, in dem die Daten eines industriellen Assets (z.B. einer Maschine) verwaltet werden. Dieses Konzept greift die IDTA auf, bietet Schulungen dazu an und schreibt Testkriterien und Spezifikationen zum Thema.
Die Aktivitäten der verschiedenen Arbeitsgruppen innerhalb der IDTA sollen es der produzierenden Industrie schließlich ermöglichen, das hohe Potenzial im Bereich Datenmanagement zu nutzen. Dabei möchten Hr. Mosch und sein Team auch möglichst viele bereits existierende Modelle und Schnittstellen (z.B. OPC UA Companion Specifications) einbeziehen.
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Das „digitale Typenschild“ kurz erklärt
Building Information Modelling (BIM) – der Digitale Zwilling der Bauwirtschaft
Der Digitale Zwilling kann in der unternehmerischen Praxis sehr unterschiedlich aussehen. Ein Anwendungsbeispiel ist das Thema BIM im Bereich der Bauwirtschaft. Einen Einblick in diese steuerte Erich Fladerer von Unger Stahlbau bei.
Digitale Modelle verwendet man bei Unger z.B. bei KundInnenanfragen. Sie helfen dabei, die Produktions- und Baustellenlogistik zu planen und ermöglichen die Simulation von Montagekonzepten. Baustellen brauchen oft sehr viel Platz, detaillierte Simulationen helfen dabei, die vorhandene Fläche möglichst effizient zu nutzen. Auch im Bereich des Materialmanagements trägt der Digitale Zwilling einer Baustelle dazu bei, dass die richtige Menge des gewünschten Materials zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Ziel bei Unger ist es außerdem, dass der Digitale Zwilling auch die Themen Sustainability und Facility Management abdeckt.
Die MitarbeiterInnen können bei Unger in den Produktionshallen über Bildschirme Daten abgreifen und wieder zurückliefern. Die genutzte CAD-Software wird dabei vom Unternehmen laufend weiterentwickelt. Während der Digitale Zwilling anfangs in erster Linie Vorteile bei internen Prozessen generierte, wird das Konzept bei Unger jetzt auch vermehrt bei und mit KundInnen eingesetzt.
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Der Bau einer Brücke mit Hilfe von BIM
Digitaler Zwilling eines Motorantriebs
Ein weiteres Anwendungsbeispiel für den Digitalen Zwilling wurde von Stefan Selke von Eaton Industries eingebracht. Eaton Industries ist ein internationaler Produzent im Bereich Elektrotechnik und beschäftigt sich u.a. mit dem Schutz und dem Schalten von Motoren.
Hier ist auch der Digitale Zwilling Thema: Der elektrische Motor ist in vielen Industriebereichen das Herzstück der Anwendung. Ein Digitaler Zwilling eines Motors kann mit Hilfe verschiedener Parameter und Analyse-Tools dabei helfen, die Anlagenverfügbarkeit zu erhöhen und die Instandhaltungskosten zu reduzieren.
Bei Eaton werden die Tätigkeiten rund um den Digitalen Zwilling aktuell ausgeweitet. Heute können mit dem Modell bereits verschiedene Kennzahlen (Betriebsstunden, Schaltzyklen…) erfasst werden, in Zukunft sollen ein Dashboard und eine Fernwartungs-Software weitere Anwendungen ermöglichen.
Für Hrn. Selke sind auch die internationalen und wissenschaftlichen Entwicklungen relevant: Schlussendlich möchte man bei Eaton standardisierte Schnittstellen nutzen und die Integration von Drittanbietern ermöglichen, offene Systemarchitekturen und Standards sind dafür eine wichtige Komponente.
Wir bedanken uns bei allen Vortragenden und bei allen TeilnehmerInnen unserer Veranstaltung! Die Sitzungen der ExpertInnengruppe Forschung, Entwicklung und Innovation sind für alle Mitglieder der Plattform Industrie 4.0 zugänglich. Sollte Ihr Unternehmen Mitglied, Sie aber nicht auf dem Verteiler der ExpertInnengruppe Forschung, Entwicklung und Innovation sein, melden Sie sich gerne bei michael.fellner@plattformindustrie40.at.
Sollten Sie noch kein Mitglied sein, freuen wir uns ebenfalls über Ihre Kontaktaufnahme!
Foto von ThisisEngineering RAEng on Unsplash